Der Infoblog über Gundlitz
Ein alter Handwebstuhl aus Holz. Rundherum und an der Wand hängt altes Zubehör das man für das Weben benutzt hat. Der Webstuhl steht in einem Museum und ist nicht mehr in Betrieb.

Gundlitzer Weber wandern aus


Vie­le Weber aus der Regi­on sind im 19. Jahr­hun­dert nach Ame­ri­ka aus­ge­wan­dert. Doch der Mythos vom bit­ter armen Weber ent­spricht in vie­len Fäl­len nicht der Wahrheit.

Es ist doch beein­dru­ckend, wie lan­ge sich die Heim­we­be­rei in unse­rer Regi­on erhal­ten hat. Noch in den spä­ten 1970ern war der Baye­ri­sche Rund­funk in unse­rer Gegend unter­wegs – unter ande­rem in Gund­litz –, um Heim­we­ber zu fil­men – damals schon ein Relikt, das vie­le aus­ge­stor­ben glaub­ten. Es ist noch beein­dru­cken­der, wenn man bedenkt, dass die Kri­se der Heim­we­be­rei eigent­lich schon im 19. Jahr­hun­dert ein­setz­te, mit der Indus­tria­li­sie­rung. So heißt es in einem Bericht der Münch­berg-Helm­b­rechtser Zei­tung vom 19. März 1892: „Bezeich­nend für die schlech­ten Aus­sich­ten in der Hand­we­be­rei mag es sein, daß in einem klei­nen Orte unse­res Amts­be­zirks, in Gund­litz, die­se Woche sechs Weber mit ein­an­der nach Ame­ri­ka auswanderten.“

Anders, als Marx dachte

Eigent­lich gel­ten die 1850er-Jah­re als die Zeit, in der es beson­ders vie­le arme Land­be­woh­ner nach Ame­ri­ka dräng­te. Wobei es nicht immer an der klam­men Kas­se gele­gen haben muss; Hei­mat­for­scher Hel­mut Hen­nig hat in sei­ner „Geschich­te Stamm­bachs“ auf­ge­zeigt, dass damals in den Zei­tun­gen kräf­tig für die Aus­wan­de­rung gewor­ben wur­de – es war eben auch ein Wirt­schafts­zweig, an dem man­che ver­dien­ten. Laut Hen­nig gab es damals „Aus­wan­de­rungs-Agen­tu­ren für Ame­ri­ka“, die Ver­trä­ge mit Ree­de­rei­en abschlossen.

Das deu­tet auf einen wich­ti­gen Punkt hin: Dass man nicht gene­rell davon aus­ge­hen kann, dass die Weber in unse­rer Gegend alle von extre­mer Armut betrof­fen gewe­sen wären. Bedeu­ten­de Erkennt­nis­se auf die­sem Gebiet sind Adri­an Roß­ner zu ver­dan­ken, der jüngst in sei­ner Dok­tor­ar­beit „Geord­ne­te Moder­ne durch indus­tri­el­le Ent­wick­lung“ den Ver­lauf der Indus­tria­li­sie­rung im Münch­ber­ger Raum unter­sucht hat. Er zeigt dar­in auf, dass die Indus­tria­li­sie­rung im 19. Jahr­hun­dert hier kei­nes­falls so abge­lau­fen ist, wie es sich man­cher vor­stellt. Vie­le haben das von Karl Marx und Fried­rich Engels gepräg­te Bild der Indus­tria­li­sie­rung im Kopf: Rei­che Fabrik­be­sit­zer beu­ten arme Arbei­ter aus, die in Elends­quar­tie­ren dahin­ve­ge­tie­ren. Die­ses Bild mag auf die Ver­hält­nis­se in Eng­land teils zuge­trof­fen haben – Eng­land war die Wie­ge der Indus­tria­li­sie­rung, dort sahen Marx und Engels selbst vor Ort die Ver­hält­nis­se in den Indus­trie­vier­teln. In unse­rer Regi­on hin­ge­gen konn­ten die Weber, die von der Heim­ar­beit in die Fabrik wech­sel­ten, nun auf ein gere­gel­tes Ein­kom­men und teils auf sozia­le Absi­che­run­gen zäh­len – noch vor Bis­marcks Refor­men. Und sie hat­ten mehr Frei­zeit als in der Heim­we­be­rei. Die Fabrik­be­sit­zer in unse­rer Gegend, auch in Stamm­bach, haben sich um ihre Arbei­ter geküm­mert. Doch für die ver­blie­be­nen Heim­we­ber hat­te die Indus­tria­li­sie­rung eine Schattenseite.

In den Jahr­hun­der­ten davor hat­te sich ein Sys­tem eta­bliert, in dem die Heim­we­ber fest ein­ge­bun­den gewe­sen waren. Ver­le­ger impor­tier­ten Baum­wol­le, lie­ßen sie von den Heim­we­bern ver­ar­bei­ten und ver­kauf­ten die Pro­duk­te wie­der. Von einer Aus­beu­tung konn­te man auch hier laut Roß­ner nicht spre­chen. Im 19. Jahr­hun­dert setz­te nach und nach die Indus­tria­li­sie­rung ein, unter ande­rem durch die Ein­füh­rung des Jac­quard-Web­stuhls und den Bau der Lud­wig-Süd-Nord-Bahn. Das alte Sys­tem wank­te, brach schließ­lich zusammen.

Hand­werk­li­ches Geschick gegen Massenanfertigung

Die Schwie­rig­kei­ten der Haus­we­ber spitz­ten sich ab den 1870ern zu, schreibt Roß­ner. „Aus den Webern, die noch vor zwei Gene­ra­tio­nen die Grund­la­ge für den wirt­schaft­li­chen Auf­schwung gebil­det hat­ten, waren Per­so­nen gewor­den, die man peri­odisch auf eine Stu­fe mit Tage­löh­nern und Not­lei­den­den setz­te“ (S. 389). Und das bei einer Arbeits­zeit von zwölf bis 14 Stun­den am Tag. Um mit der mecha­ni­schen Webe­rei in den Fabri­ken zu kon­kur­rie­ren, muss­ten die Hand­we­ber auf das set­zen, was die Maschi­nen nicht konn­ten: die hand­werk­li­che Kom­pe­tenz, die über Gene­ra­tio­nen hin­weg ange­wach­sen war. So konn­ten die Hand­we­ber bei­spiels­wei­se kom­pli­zier­te Tex­ti­li­en in klei­ner Auf­la­ge anfer­ti­gen, wäh­rend die Maschi­nen meist Ware „vom Band“ lieferten.

Ins­ge­samt geht Roß­ner davon aus, dass es den Weber­fa­mi­li­en in nor­ma­len Zei­ten mög­lich war, „eine wenigs­tens adäqua­te Lebens­qua­li­tät zu genie­ßen“ (S. 374). Aller­dings ist das nicht mit dem ver­gleich­bar, was man heu­te dar­un­ter ver­ste­hen wür­de – auf den Tisch kamen meist Kar­tof­feln, getrun­ken wur­de oft Getrei­de­kaf­fee. Auch hat die ein­sei­ti­ge Hal­tung beim Weben ver­bun­den mit dem stän­di­gen Auf­ent­halt in der Wohn­stu­be wohl oft­mals zu Krank­hei­ten geführt (S. 371). Und wirt­schaft­li­che Kri­sen konn­ten schnell das Blatt wen­den – eine sol­che gab es auch zur Mit­te des 19. Jahr­hun­derts, als die Aus­wan­de­rung nach Ame­ri­ka einen Höhe­punkt erreich­te. Wie vie­le Ame­ri­ka-Emi­gran­ten hier ein­fach kein Aus­kom­men mehr fan­den und des­halb aus­wan­dern muss­ten und wie vie­le auch hier hät­ten über­le­ben kön­nen, sich aber schlicht etwas mehr vom Leben erhoff­ten, wird wohl im Nach­hin­ein nicht mehr zu klä­ren sein.

Quel­len:

Der Aus­zug aus der Münch­berg-Helm­brech­s­ter Zei­tung stammt aus dem Archiv des Hei­mat­for­schers Karl Die­tel bzw. dem Stadt­ar­chiv Münchberg.

Adri­an Roß­ner. Geord­ne­te Moder­ne durch indus­tri­el­le Ent­wick­lung. (2023)

Hel­mut Hen­nig, Geschich­te Stamm­bachs von den Anfän­gen bis zur Reichs­grün­dung. (1989)

Karl Walt­her, „Stamm­ba­cher in der Neu­en Welt“. Erschie­nen in: Stamm­ba­cher Lese­buch. Geschich­ten und Geschicht­li­ches. Teil 1. (1999)